Imagine to propose a new Narrative for Europe. Give Europe a Future.
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D-F Komponist
Unter Musikschaffenden, wie auch den Kunstschaffenden, ist die grenzüberschreitende Aktivität und Beeinflussung eher die Regel statt die Ausnahme. So kann schon bei den Komponisten im 19.-ten Jahrhundert diese weltoffene Einstellung beobachtet werden. Dazu kommt im deutsch-französischen Lern- und Arbeitsfeld bereits Friedrich von Flotow in Erinnerung. Durch seine Lernjahre in Paris hatte er die Kompositionstechnik bei Anton Reicha persönlich studiert. In „Reichas Traité“ wurden bereits die Auflösungen von Dissonanzen in der Musiktheorie behandelt. Das sollte bleibenden Eindruck auf viele seine Schüler behalten. Das Image unten ist ein Auszug von S.59 der Abhandlung. Flotows Anwendung dieser Kompositionstechniken ist ein eigenes Forschungsthema. Der französische Einfluss auf sein Schaffen sicherlich eine interessante Facette seines musikalischen Schaffens.
Künstlerin D-F
Die Malerin Lotte hat eine Deutsch-Französische Vergangenheit und Identität. Aufgewachsen in Deutschland, Kunststudium in Stuttgart und Heirat mit einem französischen Offizier haben sie viel Reisen lassen. Das hat viele Gemälde von erlebten Landschaften hinterlassen. Die lange Zeit im Senegal, der damaligen französischen Kolonie hat viele zusätzliche Eindrücke hinterlassen.
Die Verbindung zum Zimmer von Brahms in Baden-Baden ist vielleicht eindrucksvoll gelungen. (Sammlung Würth, Ausstellung in Chur 2023)
Als „room with a view“, der für ständige Imagination sorgt, lässt sich eine künstlerische Verbundenheit mit Licht, Klang, Farben und Emotionalität erahnen. Originale von Arbeitszimmern haben ihren eigenen Reiz. Kreativität lässt sich schwer einfangen, egal ob im Bild, Gemälde oder Design. Das ist bei Friedrich von Flotow nicht anders gewesen. Komponieren bei Chopin, wie Schreiben bei George Sand können parallel in benachbarten Räumen laufen, dennoch liegen Welten zwischen den Vorstellungsräumen der ProtagonistInnen. Für Lotte waren es Räume, Räumlichkeiten und Landschaften, die sie besonders inspirierten auch jenseits der deutsch-französischen Prägung.
Reimagining
Es kann durchaus vorkommen, dass eine ursprüngliche Vorstellung eine gründliche Überarbeitung nötig hat. Das ist wohl mit Reimagining ausgedrückt. Das Sachbuch der Harvard Professoring Rebecca Henderson mit dem Titel „Reimagining Capitalism – how business can save the world“ versucht genau das. Durchaus vergleichbar mit dem Kurs „Society and Economy“, den ich an der Jacobs University hielt, versucht die Autorin, eine Neuausrichtung innerhalb der ökonomischen Disziplin zu vertreten. Gesellschaft und die Umwelt müssten im Vordergrund stehen, nicht die short-term Profit Orientierung von Unternehmen und Nationen. „Schützen, was uns reich und frei gemacht hat“ ist das 7-te Kapitel überschrieben. Darin wird zum Beispiel das deutsche Mitbestimmungsmodel (S. 229) gewürdigt, aber auch die erfolgreiche Überleitung der Wirtschaft auf Mauritius (S. 239), weg von den Zuckerrohrbaronen, hin zu einer Tourismus-orientierten Wirtschaft. Das entspricht oftmals einer „Revolutionierung der Zweckbestimmung eines Unternehmens“ (S.85 ff.). Die Untertitel wie, „Learning to love the long-term“, Langzeitorientierung (S.121) und „Learning to cooperate“ (S.163), sind programmatisch zu verstehen. Genau das aber sind wichtige Inhalte für das Lehrprogramm von business schools, zumindest den besseren unter ihnen. Dann hoffen wir mal auf die nächste Generation der business women, damit z.B. mehr Frauen in der Wirtschaft die Welt retten werden. Bisher waren da ja viele Männer dominierend angefangen mit Adam Smith und Karl Marx. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Reimagining ist ein guter Anfang.
Wir müssen reden
Im D-F-Verhältnis kriselt es. Das ist gut so. Beide Länder haben in dem vergangenen Jahrzehnt versagt, den Ausbau von erneuerbaren und ressourcenschonenden Energien hinreichend zu unterstützen. Schlimmer noch, auf europäischer Ebene wurde der „Green Deal“ durch die Aufnahme von Investitionen in Gas- und Atomenergie so entfremdet, dass die junge Generation und einige fortschrittlich handelnde Länder sich enttäuscht von Europa abwenden. Das hat im Wesentlichen der „D-F faule Kompromiss“ verursacht. Der Krieg in der Ukraine ( siehe Punkt 10 meiner Liste der Zeitenwende) hat nun das Setzen auf mehr und billiges Gas genauso platzen lassen, wie das blinde Vertrauen, dass Atomkraftwerke dem Gegner Russland nicht als Waffen vor Ort dienen können. Können wir diese Infrastrukturen schützen. Da stehen wir beide mal wieder ziemlich nackt da. Haben wir uns erst einmal nackig gemacht, lässt es sich fantastisch über des Kaisers neue Kleider reden. Zwischenzeitlich könnte ein Solarpanel die Scham des Kaisers verdecken und ihm eventuell auch die nötige Wärmeenergie liefern. Passend zum Feiertag am 1.11.22 erscheint ein langes Interview mit „Amory Lovins“ (Le Monde S.13), einem Wissenschaftler der bereits 1976 für derartige Investitionen in erneuerbare Energien plädiert hat. In D und F entschieden sich die Politiker für Energie in meistens fortlaufenden Staatsmonopolbetrieben. Dabei wissen wir jetzt, die großen Monopole der Energie und die „too big to fail“ Akteure auch in der Energiewirtschaft, müßten durch massiv dezentrale Energieerzeugung ersetzt werden. Solarzellen überall als dezentrale Energieinfrastruktur ist zusätzlich „strategische Autonomie“. Reden wir drüber.
Super Profits
It is interesting to see with what speed or endless slack countries wake up to limit the windfall profits from Russia starting a war and thereby shortening supply of oil, gas and through war difficulties also fertilizer and basic food. There has been a long runing discussion in economics to what extent short-term profit maximization is detrimental to the economy or society at large (see below). The super profits accumulated by some countries and companies due to warmongering by Russia are beyond comprehension for almost everybody. Although it is simple actual and perceived shortage of supply sends prices soaring. However, countries can change the rules of the game in multiple ways. The limitation of prices to upper limits is one such element. Taxing profits on living basics above ethical levels of a percentage level of returns on capital, for example, can be instrumental. No incentive to invest to increase supply (of polluters) is wanted, therefore the profits not due to intellectual capital or human capital invested could be taxed at different levels. Even in the Financial times from December 2020 had already a debate on this, before Russia waged its war. Windfall profits on markets for energy, as huge exporting country, and land gains appeared promising for Putin. Let’s just stop this historical nonsense with limiting prices and investment in bottom-up, decentralized energy production. A European fundamental issue with repercussions around the globe.
Maison F/D
Un nouvel épisode va s’ouvrir pour nous. Pour célébrer l’amitié franco-allemand, nous mettons à disposition des chambres à louer en « co-working and co-living » pour étudiantes et étudiant où jeunes en début de leur carrière où bien leur start-up. Avec le mot des passe « Maison22 » vous pouvez rentrer dans l’espace aussi bien réel qu’imaginaire.
Essayez : https://imagine4d.de/imagine-une-maison
„Anfang sein für einen neuen Tanz, kann jeder Schritt“ heißt ein Gedichtband. Oder wie kürzlich in Berlin gesehen: https://schoemann.org/tanz-in-berlin
Paris Berlin
Es gibt Vieles, das Paris und Berlin verbindet. Die dt-frz. Freundschaft samt dem Elyseevertrag, kürzlich ergänzt durch den Vertrag von Aachen (Aix-la-chapelle) bleiben Meilensteine der Völkerverständigung. Jenseits des rationalen Kalküls, à la Clausewitz, ist die Idee eine Jahrhunderte währende kriegerische Auseinandersetzung mit einem Freundschaftsvertrag zu befrieden eine historische Leistung gewesen. Erst seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine vom 24.2.2022 wissen wir wieder, was es wirklich bedeutet, wenn es Krieg in Europa gibt.
In der Architektur finden wir viele Einflüsse, mit denen Paris Berlin beeinflusst hat. Lange seit der Faszination der Boulevards Hausmannienne mit seinen großen Axen durch die Hauptstadt, hat sich die Pyramide des Grand Louvre in unser Gedächtnis eingeprägt. Einmal gesehen, nie wieder vergessen. Weniger bekannt ist die komplexere geometrische Form der Strandschnecke, Meeresschnecke oder spezifischer der Tectarius. Ieoh Ming Pei 贝聿铭 ist der Architekt dieser lichtdurchfluteten Formen, die zum Besuch einladen. Das ist ihm meiner Meinung nach auch in Berlin mit dem Anbau des Deutschen Historischen Museum gelungen.
Erst jetzt, da das Zeughaus mit der Daueraustellung renoviert wird, ist der Haupteingang auch einer Doppel-Helix vergleichbar, neuerdings in diesem Bereich zu finden. Das DHM hat somit dem Pariser Louvre vergleichbar seinen Eingang über den Pei-Glaskörper. Achten sollte man/frau auf einen sonnigen Tag, damit das Licht und Schattenspiel seine volle Pracht im Erlebnisraum entfalten kann.
Aus weiter entfernter Perspektive ergibt sich eine Proportionalität, die dem Louvre vergleichbar ist. Als Portal zum Annex geplant, fehlt der Architektur leider die Zentralität wie dem Louvre, vielleicht ein Hinweis darauf, wie schwer es den Deutschen fällt, moderner Architektur zentrale Plätze einzuräumen. So bleibt die Eingangshalle ein von den Flanierenden wenig beachtete Zufallsentdeckung, allerdings mit enormem Bereicherungspotenzial. Das wieder aufgebaute Schloss, getarnt als Humboldt-Forum und die im Bau befindliche „Scheune“ neben der Neuen Nationalgalerie verdeutlichen eine gewisse Rückwärtsgewandtheit der letzten Jahre in der Berliner Architektur zumindest der aüßerlichen Hüllen. Innenleben müssen nun Kontrapunkte setzen. Die progessive Reichstagskuppel von Sir Norman Foster hat da mehr Courage bewiesen.
Veränderung
Wer nicht an sich selbst glaubt, hat schon verloren. So oder so ähnlich könnte das Statement von Daniel Roseberry heißen, wie er in dem Interview mit Elvire von Bardeleben, abgedruckt in LeMonde vom 12.5.22 Seite 34 verkündet. „Man muss schon glauben, dass eine Kollektion die Macht hat, die Welt zu verändern“. Woher kommt dieser Wagemut, der Glaube an der richtigen Sache dran zu sein. Jugend ist die eine Antwort. Risikofreudig zu sein, sich und die Welt auf die Probe zu stellen, ist eine herausfordernde Attitüde. Wer es nicht ausprobiert, kann auch nicht eines Besseren/Schlechteren belehrt werden.
Nachhaltigkeit in der Mode, Konsum und Produktion ist ein riesiges Thema für alle Generationen. Imagine something different! Nicht gleich wegwerfen bei Nichtgefallen. Der Weg zum Produkt kann das Ziel sein. Sich Zeit nehmen, jungen Kreativen zuzuhören ist Teil davon. Das kann gerade zu Mode und Nachhaltigkeit über Platformen wie YouTube oder Instagram etc. passieren oder auf Messen. Die Hannovermesse hat viele junge start-ups vorgestellt (z.B. Niedersachsen, NL, Can). Die Veränderungen sind greifbar, packen wir sie an.
Ukraine 3.0
Aus Ukraine (1.0) vor dem Krieg (2014) ist Ukraine 2.0 im Zwischenkriegszustand geworden. Das wollten wir im Westen nicht wahrhaben und haben dem lächelnden Diktator Putin zugehört. Das war, im Rückblick, bereits Kriegvorbereitung für das Jahr 2022. Das wollten wir ebenfalls nicht sehen. Jetzt verzweifeln wir an den Optionen für ein Ukraine 3.0. Fünf Themen aus der soziologischen Literatur unterstützen die Reflektion und zeigen Gestaltungsansätze auf:
(1) Reiter und Stam (2002) erinnern uns daran “democracies are less likely to go to war than authoritarian regimes. Democracies are more likely to enter war when the likelihood of success is high.” Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine ist auch das von Downing untersuchte Verhältnis von militärischen Konflikten und der Entwicklung von Verfassungen im 17. Jahrhundert interessant, wird doch von Russland heute noch die Meinung vertreten, dass die ukrainische Verfassung keine Paragraphen über NATO und/oder EU-Beitritt enthalten dürfe.
(2) Thomas Janoski (1998, S.146) hat bereits den Zusammenhang von Mobilisierung für den Krieg und die Frage von Staatsbürgerschaften und sozialen Rechten analysiert. Er konstatiert den Anspruch auf allumfängliche Staatsbürgerrechte für „veterans and civilians who have risked life and limb for the country“. Im Ukrainekrieg können wir das ergänzen mit dem Einsatz von Leben und Knochen für die Idee von Freiheit, Selbstbestimmung Rechtstaatlichkeit und Demokratie. Das heißt, Zugang schaffen zu unseren Arbeits- und Sozialsystemen und zwar für die Familien, die mit aller Härte unsere Werte verteidigt haben.
(3) Theda Skocpol (1979) hat in eindrücklicher Weise die Rolle von geopolitischen Verschiebungen und innenpolitischen Konsequenzen verdeutlicht. Sowohl die französischen, russischen und chinesischen revolutionären Umbrüche können als Folge von (verlorenen) Kriegen interpretiert werden.
Goldstone (1991) vertritt komplementär die These, dass „intra-elite conflict and fiscal strains” als weitere hinreichende Bedingungen notwendig sind, damit Regimewechsel erfolgreich verlaufen können. Bezogen auf Russland im Ukrainekrieg sollte der „inter-elite conflict“ zwischen modernen wirtschaftlichen Eliten des Landes und der verkrusteten militärischen Corps als eventuell richtungsweisend betrachtet werden. Das Modernisierungs- und Demokratisierungspotential der Wirtschaftseliten wird durch die Sanktionen nachhaltig geschwächt, was die alten militärischen Eliten zusätzlich begünstigt. Die russischen Militärkader könnten bei gesichtswahrender Konfliktbeilegung ihre Macht gefestigt sehen. Das gilt es zu vermeiden. Ebenso, wie die klare Kante gegenüber regimestützenden Oligarchen. Einfach gesagt, schwierig im Detail.
(4) Charles Tilly (1985), der Autor von „War making and state making as organized crime” hat in 1995 die Analogie zur Hydraulik in der politischen Soziologie geprägt: Der Staat ist ein Becken von vielen Zu- und Abflüssen. Die Stabilität des Beckens besteht in der Fähigkeit, die unterschiedlichen Ströme auszubalancieren. Nicht antizipierte Ströme können die Balance nachhaltig stören, so dass das gesamte Becken kippt. Neben den externen Strömen stellen große soziale Bewegungen eine den externen Einflüssen vergleichbare interne Gefahr dar. Das würde bedeuten: Der eigentliche Krieg bestreitet Putin und seine militärischen Eliten gegen seine eigene Bevölkerung, im Angesicht der Gefahr einer Demokratisierung der russischen Gesellschaft.
(5) Richard Falk (2002) fordert uns heraus, das Verhältnis von Globalisierung und Menschenrechten zu hinterfragen. Eine naive Erwartung, dass Globalisierung nach und nach eine Verbreitung und Verbreiterung an Menschenrechten mit sich bringen werde, wurde bereits 1999 von ihm bezweifelt. Die zähen Entwicklungen im Umfeld von Kriegen mit den einhergehenden Menschenrechtsverletzungen haben uns das heute auch in Europa vor Augen geführt. Es fragt sich, warum eine Direktive oder Empfehlung der EU-Kommission zur Einhaltung von Menschenrechten in Lieferketten von Unternehmen so lange blockiert wurde. Der Krieg in Europa macht uns unsere Verantwortung klar, entschiedener für die Verwirklichung und Einhaltung der Menschenrechte einzutreten. Wirtschaftssanktionen bei Menschenrechtsverstößen treffen immer auch die Auftraggebenden (russisches Gas), aber das werden wir aus- und durchhalten müssen, ansonsten werden wir zu Kollaborateuren (mehr dazu). Schuldig am Massaker an Unschuldigen, die wegen ihrer Herkunft ermordet wurden und werden. Originalbild von Poussin in der Sammlung Château Chantilly. Mehr zu kollektive Gewalt auf schoemann.org.
Soziologie des Krieges
Wissenschaften haben ihre eigene Agenda. Ausgehend von dem Artikel „Sociology of War“ im Handbook of Political Sociology (Janoski et al. 2005) lässt sich die Aktualitätsgetriebenheit der Wissenschaft selbst am Beispiel der Sozialwissenschaften aufzeigen. Im Beitrag von Hooks und Rice (2005) werden die „blind spots“ der Soziologie in den letzten Jahrzehnten deutlich. Im Feld der politischen Soziologie wird deutlich, wie sich die Soziologie fokussiert hat auf „domestic politics and processes“. Lediglich die großen Gesellschaftstheorien, die meist längere Zeit zurückgehen, haben oft einen direkten Bezug zu Kriegen. Der Prozess der Zivilisation von Elias (1939) baut auf die schleichende Zivilisierung der Menschen und der Menschheit. Die dramatischen Rückschläge durch Krieg und Kriegsverbrechen stellen einen nachhaltigen Rückschlag für den Prozess der Zivilisation dar. In einer kleinen Tabelle von Hooks und Rice (2005) werden die soziologischen Beiträge zwischen den Jahren 1990-94 mit denen aus 1995-99 vergleichen (s.u.) Es zeigt sich eine Halbierung der Beiträge mit Bezug zu Krieg in den 3 größten amerikanischen soziologischen Zeitschriften (S.572). Soziologie hat das Themenfeld zunehmend der Politikwissenschaft und anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen überlassen. Aber was fehlt uns an Wissen nun. Soziologische Studien zum Verständnis des Kriegs in der Ukraine fehlen auf mindestens 5 Ebenen. Wie ändern sich die Einstellungen und Ungleichheiten zwischen den Individuen durch solche historischen Einschnitte? Ergeben sich neue Zäsuren für Geburts- oder Kriegskohorten? Verändert sich das gesamtgesellschaftliche Machtgefüge, insbesondere von alten/neuen Eliten? Wie verschiebt sich das europäische und internationale Machtgefüge? Was heißt das für die Zukunft Europas? Vielleicht ein Update der Schuman-Deklaration (hier). Auch neue Formen des Widerstands sind möglich. Die können viele Formen haben. Zum Beispiel so.
Lehren der Ukraine
Denken und Gedenken an die Ukraine bedeutet auch Forschungsfragen neu zu stellen. Es gibt kein Weiterso mehr. Eine erste Themenauswahl der notwendigen Gedankenexperimente. Beispiele soziologischer Forschung zum Krieg:
(1) Generationeneffekte welche historischen Vergleiche zum Ukrainekrieg herangezogen werden. Putin versucht Bezug zum 2. Weltkrieg herzustellen, während Westen die Territorialrückgewinnung von Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion betont.
(2) Soziale Netzwerke werden eventuell neu formiert durch Rückbezug auf familiäre Bindungen statt breiteren Netzwerken. (3) Scheidungsraten durch kriegsbedingte Trennungen oder Rückbezug auf ethnische Bezüge verändern sich.
(4) Die Motivation für kriegs- oder zivildienstlichen Einsatz lässt sich zurückführen auf Gender, Identitäten, soziale Netze und Wertegemeinschaften oder auch den eigenen Lebensverlauf.
(5) Russlands Bedeutungsverlust vom „Core to Periphery“ in der Weltwirtschaft und Technologiekompetenz ist empirisch zu belegen.
(6) Individuelle Prädispositionen für Einsatz im Umfeld von Krieg sowie Stressmanagement, Verarbeitungsstrategien von derartigen Erfahrungen erfordern aufwendige Längsschnittuntersuchungen. Diese Studien zum Irak- oder Afghanistankrieg wurden vernachlässigt.
(7) Eine im Regionalbezug offene Frage bleibt, inwiefern Krieg zum „Institution building“ beiträgt. Das betrifft die Entstehung/Untergang ganzer Staaten, Regionen oder Bevölkerungsgruppen.
(8) Das UN-Gebilde mit differenzierten Zuständigkeiten, Sicherheitsrat, Vollversammlung, Internationalem Gerichtshof und Handelsorganisation wird einem Stresstest unterzogen und Reformbedarf offensichtlich.
(9) Viel Hoffnung wird auf den Zusammenhang von Krieg und Revolution gesetzt. Das Vertreiben von Despoten kann zu einer nachhaltigen oder intermittierenden Demokratisierung führen.
(10) Kriegsrelevante Produktion kann industriepolitische Veränderungen von großer Tragweite herbeiführen, je nach Stabilität oder Veränderung von regionalen Produktionsclustern oder Verwendung von neuen Technologien.
(11) Wer führt Krieg, Staatsführer, jeweilige verbundene Eliten oder breite Bevölkerungsgruppen (Guerilla)?
(12) Opportunitätskosten der Militärausgaben und -investitionen müssen kalkuliert werden, sowie die „keynesianischen“ Multiplikatoreffekte von derartigen „Konjunkturprogrammen“ und Staatsverschuldungen zusätzlich zu den „foreign direct investments“ innerhalb und zwischen Wirtschafts- beziehungsweise Militärallianzen. (siehe unten Grafik aus Economist 2022 zum 2% Ziel NATO).
(13) Wechselwirkungen zwischen den vorgenannten Themen erhöhen die Komplexität und zeigen die notwendige Bescheidenheit der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse im Vergleich zum Ausmaß der Aufgabe.
Ukraine Widerstand
Bei der Recherche zum Begriff der Kollaboration bin ich auf die grundlegende Arbeit von Poshek Fu (1993) gestoßen. Er spannt mit klarem Blick die moralischen und politischen Optionen in Zeiten von kriegerischer Besetzung eines Landes auf. Bewusst begibt er sich in die Grauzone der möglichen Verhaltensweisen in besetzten Regionen. Als eine literarisch und biografisch inspirierte Heuristik erläutert er in plastischer Form die Komplexität und Ambiguität des Verhaltens in extremen Situationen bei Präsenz von unmenschlichem Terror (S.XIV). Das dreiteilige Schema von möglichen Verhaltensweisen Passivität, Widerstand und Kollaboration lässt Raum für den „menschlichen Willen“ selbst unter extremen Bedingungen historischer Konstellationen, die überfrachtet sind mit Konfusion und moralischer Unsicherheit (S.XV). Sein komparativer literaturwissenschaftlicher Ansatz eröffnet interessante Zugänge zur Komplexität des Widerstands, von sich entwickelnden Kompromissen sowie der Ambiguität von intellektuellen Wahlmöglichkeiten, wie er es nennt. Sein literaturgeschichtlicher Ansatz sieht Literatur als „socially symbolic act, a mediated, symbolic response to a concrete historical situation“ (S. XVII). So kann sich Literaturgeschichte eine kritische Distanz zum Studienobjekt und -subjekt erhalten und kontextualisierte Literatur als empirisches Datenmaterial sekundär auswerten (Forschungsfeld: digital humanities). Auf diese Weise wird Literatur zu historischen Zeitperioden Grundlage für qualitative Sozialforschung, bestens geeignet für Hypothesengenerierung zu sozialen Prozessen oder Begriffsklärungen beziehungsweise Kategorisierungen. In diesem Beispiel erweitert sich der ansonsten schwer fassbare Begriff der Kollaboration um die logischen Handlungsalternativen der Passivität (innere/externe Emigration) und Widerstand (offene/verdeckte Gewaltbereitschaft). So können wir unsere zur Verfügung stehenden Optionen in Gedankenexperimenten zum „Krieg in Europa 2022“ (s.u. NYT vom 1.März 2022) schon gedanklich vorbereiten. Die Ukrainer*innen mußten rasch handeln, ohne viel Bedenkzeit oder waren sie seit dem Überfall 2014 bereits rational und emotional schon involviert inWiderstand, während wir im weiteren Westen die Gefahr noch ausblenden wollten.
Meine imaginäre Schuman Déclaration vom Mai 2020 liest sich aktueller denn je.
Fu, Poshek (1993). Passivity, Resistance, and Collaboration. Intellectual Choices in Occupied Shanghai, 1937-1945. Stanford. Stanford University Press.
Kollaboration Ost
“Collaboration in the Hollocaust”, von Martin Dean (2000) beschreibt die fürchterliche Teilung Polens durch Hitler und Stalin und die kurze Herrschaft der Bolschewiken im östlichen Teil Polens in 1940. Vielfache Verbrechen, Enteignungen, Deportationen und Zwangsumsiedlungen erfolgten dort. Die Ukraine machte erst die schreckliche Erfahrung durch Zwangsdeportationen der Sowjets und dann die noch schrecklichere des unbarmherzigen Naziterrors. Erneute Besetzung durch die Russen nach dem 2.-ten Weltkrieg und Atomreaktorunfall Tschernobyl haben die Leidensfähigkeit in unbeschreiblichem Ausmaß beansprucht. Die Zitate aus dem Buch von Martin Dean (2000) veranschaulichen das eindrücklich. Gleichzeitig finden sich Hinweise auf die unbeugsamen Partisanenkämpfe in den großen Wäldern der Ukraine in den Jahren 1942-44 (S.119). Das wird Russland in 2022 nur mit großer Brutalität eingrenzen können. Das heißt dann allerdings ein langes „Sich-hin-Ziehen“ des Konflikts. Die langen Grenzen der Ukraine kann Putin nicht einfach mit einer Mauer abriegeln, wie das in Berlin geschah.
Ein langer Flash-back mit Zitaten von Martin Dean (2000): „In several respects the subsequent German occupation adapted the methods developed by the Soviets during their brief period of rule” … “Both regimes also sought to exploit national rivalries between Poles, Ukrainians and Belorussians to assert their own authority through the traditional imperial policy of divide and rule.” (Dean, S.14). “The trauma of Soviet mass deportations, even for those who remained behind, left deep scars which still influenced all ethnic groups during the German occupation.
“It is indeed a strange irony that it was precisely the harsh Soviet policies of deportations and military conscription which did much to preserve Polish Jews from the fate of their brethren in the Nazi Holocaust.” (S. 16).
200.000 men born between1917-22 were called up to the Red Army from the new occupied territories in 1940.
Kollaboration
Kriege hinterlassen tiefe Wunden, bei allen Beteiligten. Die binäre Logik der Unterteilung in Siegende und Besiegte ist vielfach nicht ausreichend. Die Wunden selbst bei denen, die gesiegt haben vernarben nur langsam mit dem Risiko, dass sie nach Jahrzehnten erneut aufbrechen. Das schwierig zu bewertende Thema der Kollaboration innerhalb der Besiegten (bspw. Belgien und Frankreich) und dann Siegenden im 2-ten Weltkrieg verdeutlicht das. Die Literatur in Frankreich und Belgien zur Definition und Nachverfolgung der Kollaboration zeigt die Problematik auf. Das Vichy-Regime (nicht ganz Frankreich) hat kollaboriert mit immer weniger wirklichem Widerstand gegen das Verbrecherregime der Nazis (15.8.1945, Maréchal Pétain condamné à mort). Selbst die Kirche im gespaltenen Frankreich mit kollaborierender Regierung in Vichy und Exilregierung in London hat diesen Spagat vorgeführt. Ohne die vielfältigen Formen der Kollaboration wäre das Naziregime wohl schneller zusammengebrochen oder die anfängliche Ausdehnung hätte schneller gestoppt werden können. Andererseits wären die Grausamkeiten und Strafaktionen der Nazis auch noch größer gewesen, jenseits ohnehin schon unfassbaren Ausmaßes. Viele Personen, die Herrschaft indifferent gegenüberstehen arrangieren sich mit den jeweiligen Machthabenden auf die eine oder andere Weise. Überleben, wenn man nicht zum heldenhaften Verhalten neigt, wird zur drängenden Frage. Was ist der Familie zumutbar? Wie stehe ich vor meinem Gewissen da? Diese Fragen stellen wir uns heute eher nicht. Nur wenn wir nach Bosnien-Herzegowina, die Krim und in die Ukraine blicken stellen sich diese Fragen wieder. Ist die 2-te Gaspipeline von Russland schon Kollaboration mit einem Unrechtsregime oder nur Sicherung der nationalen Energiesouveränität oder gar „Wandel durch Handel? Die moralischen Dilemmata bleiben die gleichen, Diplomatie bleibt die Antwort. Verhandeln. Menschlichkeit als gelebter Humanismus bleibt die Antwort, wenn Rechtskontext, Rechtsprechung und Rechtsvollzug in der internationalen Politik nicht mehr wirkmächtig sind. Für nachwachsende Generationen ist es eine schwierige Herausforderung, einzelnes Handeln und Verhalten zu kontextualisieren. Aber das ist unsere Verantwortung in und für Europa: Kontexte verständlich zu machen und Vereinfachungen vorzubeugen. Binäre Logik ist selten zutreffend, obwohl künstliche Intelligenz letztlich darauf beruht, alles in 0-1-Schemata zu pressen. Das Farbensehen mit all seinen Varianten und Nuancen ist wohl eine Stärke unserer Spezies. Unsere Urteilsfähigkeit sollte davon beeinflusst werden und populistischen Strömungen mit grellen Farben und 0-1 Vereinfachungen widerstreben. Ausgewählte vertiefende Literatur zum Thema im pdf-file (s.u.).
Der geschichtssoziologische Blick interessiert sich nicht nur für die Lebensverläufe von Personen, sondern auch von Personen in spezifischen nationalen Kontexten, Regionen innerhalb von Staaten, Wirtschaftssektoren (Krupp) oder konfessionellen Zusammenhängen. Die Kontextabhängigkeit von individuellem Handeln wird dabei besonders deutlich, aber eben auch die Möglichkeit, Mut und Größe zu beweisen. Heute nennen wir das Zivilcourage basierend auf weisem Urteilsvermögen.
Experimente
Das Lese- und Studienbuch „Philosophische Gedankenexperimente“ erläutert aus geisteswissenschaftlicher und methodischer Sicht wie „Imagineering“ wissenschaftlich fruchtbar gemacht wurde und wird (siehe auch Baggini). Die Vorstellung der Methode „Gedankenexperimente“ (kurz GE) ermöglicht das systematische Verwenden des Ansatzes in anderen Lebensbereichen, beispielsweise in Therapie, Coaching und Evaluation. (Leseprobe). Eine aufschlussreiche, kritische Dissertation zum Thema von 2007 gibts auch schon von Tobias Klauk. Aber was ist ein philosophisches Gedankenexperiment? Georg Bertram postuliert dafür (1) eine philosophische Fragestellung, (2) die Konstruktion eines kontrafaktischen Szenarios und (3) Auswertung des Szenarios bezogen auf die Fragestellung (vgl. S.18). Der ökologisch wertvolle Charme des GEs besteht unter anderem darin, dass kein reales Experiment durchgeführt werden muss. Die Simulation von Szenarien in GEs durch Narrative (thick descriptions in der qualitativen Sozialforschung) und fiktionale Entwürfe in Literatur oder Film kann ressourcenschonend durchgespielt werden. Als Ergebnis des GEs lässt sich eine Widerlegung, Differenzierung, Vertiefung oder Bestätigung der Ausgangsfragestellung ableiten.
Wenig überzeugt hat mich im 1. Teil die Textpassagen „Zur Theorie philosophischer GE“ (S.27ff.), da die Theorie überwiegend darin besteht „eine kleine Typologie“ (S.35) zu erstellen. Vergleichbar der Farbentheorie von Goethe ist eine Sortierung von Farben nicht genug. von einer Theorie müssen Prozesse beschrieben werden können, die Erklärungen anbieten, warum uns rot als rot erscheint: Einerseits im Frequenzspektrum der aussendenen Quelle und/oder der empfangenden Netzhaut begründet, sowie der Materie dazwischen. Die Zuordnung in die Farbtypologie mit Rotschattierungen ist ein erster Schritt und hilft bestenfalls im alltaglichen Streiten über Farben. Also die 3 Formen der GE: erklärende Experimente, Experimente zur Änderung von Überzeugungen, und solche zur Schärfung und Innovation von Begriffen, bilden die Haupttypen (S.45). Typbeschreibend sind die Bedeutung fiktionalen Sprachgebrauchs, die Kreation eines narrativen Protyps, das mentale Modellieren, sowie die Auseinandersetzung mit dem kontrafaktischen Szenario (siehe Auszug 1 unten S.70-71). Als Zusammenfassung bietet Bertram (S.74 Auszug 2) 5 Schritte des GEs an, quasi als Anleitung zum Ausprobieren von Gedankenexperimenten.
Viel Spaß wünsche ich dabei. Im folgenden des Buches werden 44 GE-Beispiele vorgestellt, die vielen bekannt sein werden. Mich hat neben „Antigone“ (S.86), „Der natürliche Mensch“ (S.193) das Beispiel „Utopia“ (S.287) wegen direktem Bezug zu Imagineering inspiriert. Als etwas eingestaubt ist „Herr und Knecht“ (S.169) aufgefallen. Insgesamt ein toller Einstieg in eine der Methoden der „Imagination“ durch GEs.
Wer bis hierher durchgehalten hat wird mit „Gut-Gläubigen-GEs“ und „Feucht-Fröhlichem-Fest-Diner“ belohnt werden. GGGEs + FFFD hat Beethoven uns unvergesslich in seiner 5. Sinfonie in C-moll eingeprägt.
Todesurteil
Aus einer systemischen Sichtweise (z.B. Luhmann pdf) heraus gehört das gesellschaftlich institutionalisierte Rechtssystem, kurz die Rechtstaatlichkeit, eingebettet in breitere gesellschaftliche Prozesse. Sicherlich hat sich die Sicht auf Strafen, wie die Todesstrafe, mit Foucault verändert, aber wesentliche Beiträge von Philosophen und Literaten hatten die Unhaltbarkeit der Todesstrafe nach ergangenem Todesurteil lange vorher kritisiert. Victor Hugo hatte bereits in seinem Werk „Der letzte Tag eines Verurteilten“ dramatisch geschildert, wie sich Hoffnung und Ängste aufdrängen. Justiz soll keine „Siegerjustiz“ sein, sie bleibt aber bestimmt durch mehr oder weniger demokratisch legitimierte Rechtssysteme und die geltenden Machtverhältnisse in Staaten dieser Welt. Drogendelikte und ihre unterschiedliche Handhabung in Staaten (selbst Staaten innerhalb der Vereinigten Staaten) verdeutlichen eine gesellschaftliche Ko-determination von Recht, Rechtsprechung, Rechtausübung, Rechtdurchsetzung und des staatlichen Gewaltmonopols. Eine Ausstellung im Arsenal (Bibliothèque nationale de France) zur Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich vor 40 Jahren zu Ehren von Robert Badinter, einer treibenden Kraft und eloquentem Redner, bot eindringliche Bilder eines langen Kampfes zur Abschaffung einer brutalen Prazis der Bestrafenden. Eine traurige Ironie des Schicksals ist die nahezu gleichzeitige Abschaffung der Todesstrafe in der DDR mit der Hinrichtung von Werner Teske, einem fluchtwilligen, enttarnten Spion zu Mauerzeiten. Auf Spionage steht in noch mehr Ländern die Todesstrafe als außerordentlicher Tatbestand. Aktuelle Berichte aus Berlin, Tiergartenmord, Vergiftung in London oder Wikileadsgefährdungen lassen die langen Arme von Geheimdiensten auch heute fürchten. Die größte gesellschaftliche Gefahr findet dann in sich entkoppelnden Rechtssystemen statt, die quasi von sich aus Prozeduren starten und durchführen, die nicht mehr an die anderen gesellschaftlichen System, wie freie Presse, Parlamente und Wissenschaft angebunden sind. Die verschlossene Atmosphere des „Arsenal“ in Paris steht in starkem Kontrast zu der Weltoffenheit mit der sich die anderen Teile der Bibliothèque de France „Francois Mitterand“ präsentiert. Fortschritt braucht oft Jahrhunderte und ist vor Rückschlägen nicht sicher.
Desinformation
Mit jeder nächsten anstehenden Wahl, auch Betriebswahlen, Sozialwahlen, Regionalwahlen, Bundeswahlen und Präsidentschaftswahlen ist Desinformation und „Hate speech“ ein wiederkehrendes Thema. Daher aus aktuellem Anlass der Vorwahlen in Frankreich der Präsidentschaftskandidat*innen: Es war als ein gutes Zeichen zu werten. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in 2020 hatte die erste Ministerrunde mit JustizministerInnen stattfinden lassen zu dem Thema Desinformation, Hetze und Hassrede im Internet. So berichtete bereits die Tagesschau am 6.7.2020. Die Strategien zur Gewinnung von neuen Unterstützern und stillen Tolerierenden von Hassrede oder Anhängern von Verschwörungsideologien werden ständig raffinierter (Bericht hier). Daher ist eine geschlossenere Vorgehensweise in Europa dringend nötig, um dem entschieden zu begegnen. Neben der Verantwortung der Giganten der sozialen Medien, die zu lange alles einfach laufen ließen kann nur ein verlässlicher Rechtsrahmen innerhalb der EU weiterhelfen. Den einzufordern, können wir nicht den Betroffenen überlassen. Das ist zivilgesellschaftliche Pflicht.
Da Menschenrechte nicht an der Unternehmenstür oder in der Umkleidekabine abgegeben werden, stehen Unternehmen in der Pflicht, beispielsweise mit einem Verhaltenskodex auf Fehlentwicklungen zu reagieren, besser noch diesen bereits vorzubeugen. Der Hamburger Hafen hat dazu vor einigen Monaten eine Initiative vorgelegt und ein beispielhaftes Dokument zur Bedeutung der Menschenrechte im Betrieb erstellt. Der Verhaltenskodex ist umfassend. Nachahmen erwünscht. „Wir treten daher jeder Form von Belästigung, Mobbing und Diskriminierung entschieden entgegen. Wir achten alle Kolleginnen und Kollegen unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe, Nationalität, ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer Religion, ihrer politischen Einstellung, ihrem Alter, ihrer körperlichen Konstitution und ihrem Aussehen.“ (https://hhla.de/fileadmin/download/investoren/corporategovernance/HHLA_Verhaltenskodex-2017.pdf)
Betroffenen Personen von Hassrede weiterzuhelfen, bleibt eine wichtige Aufgabe. Hier übernehmen Stiftungen, insbesondere die Amadeu-Antonio-Stiftung eine wichtige Rolle. Auch bei „Hateaid“ wird den vielen Betroffenen und Eingeschüchterten geholfen. Es braucht Unterstützung von vielen Personen, damit Hassrede keine Verletzungen hinterlässt.
Kunst im Bahnhof
Am 30.11.2021 gab es Installationen und Musik am und im Bahnhof in Brüssel Central zu bewundern. Viele Menschen, die nur zufällig dort vorbeilaufen in der Rushhour der Stadt ab 17 Uhr waren zunächst überrascht. Einige verweilten eine kleine Weile. Interessant die Möglichkeit, erst draußen der Light-show mit Techno und spärischen Klängen zu lauschen und dann innen in der historischen Halle mit Kriegsdenkmal für Gefallene der beiden Weltkriege der Eisenbahner, den Opernsänger*innen und dem Orchester zuzuhören. Eine gelungene Inszenierung und eine Feierstunde für die Bahnhöfe als Begegnunsorte. Der Soziologe bemerkt nebenbei, die Faszination der Jugend für die Light-show mit Techno und der deutlich höhere Altersdurchschnitt der Verweilenden bei der klasssisch anmutenden begleiteten Gesangsvorträge der „Mitreisenden“.
Gesellschaft ist, wenn sich beide Gruppen tolerieren und einander befruchten. Ein Aufmerksamkeitswettbewerb findet eh statt. Der eilige „Commuter“ lässt sich nur kurz von seinem Weg abbringen und wuselt weiter durch die Menschenansammlungen. Mehr Kunst am und im Bau/Bahnhof tut uns allen gut.
Imagine ein neues Narrativ
Die Eisenbahn, wie der Name bereits schon so schön sagt, hatte das Image des metallischen Stahlrosses, welches sich mit möglichst energie-geladener verheizter Kohle seinen Weg durch Städte und Landschaften frisst. Gleichzeitig wurden die Arbeitenden dieses Industrie- und Wirtschaftszweigs rasch zu wichtigen Streitenden für sozialen Fortschritt. Einst ließ sich Alfried Krupp noch das nahtlose Eisenrad(1853) patentieren und schon einige Jahrzehnte später hatte die Eisenbahn die europäische Landschaft entscheidend verändert. Das heiße Eisen ließ auch die Kunstschaffenden nicht kalt. Im europäischen Jahr der Eisenbahn 2021 ist die Ausstellung „Voies de la modernité“ in Brüssel sicherlich ein Imagination-beförderndes Event. Vor 175 Jahren wurde die Strecke Paris-Brüssel eröffnet. Die größten Maler (ja fast alle Männer) haben sich diesem technischen Monstrum und seinen Auswirkungen gewidmet. Die Malenden visualiseren Faszination und Schrecken dieser gewaltigen Maschinen. Claude Monet ist mit 3 Bildern vom Gare Saint-Lazare (1877) in Paris vertreten. Auch Gustave Caillebotte, nicht als Mäzen und Sammler von u.a. Monet, sondern als Maler hat 2 sehr unterschiedliche Bilder zum Thema Eisenbahn geschaffen. Sein Gemälde „Paysage à la voie de chemin de fer“ von 1872 lässt den Betrachter von oben herab auf die Bahn und Schienen blicken, die schmerzlich eine Schneise durch die Landschaft schneiden. Das Brückengeländer sollte vielleicht noch den Fortschritt aufhalten. So viel größer ist doch die Natur, gesehen aus der erhöhten Perspektive. Die Fotografie vorwegnehmend wendet Caillebotte bereits die Konstellation, scharfer Vordergrund und Unschärfe im Hintergrund an (Bild 1). Was das Zeitalter der Eisenbahn noch bedeuten sollte, bleibt dabei schemenhaft. Es zeichnet sich der Wechsel des Narrativs vom „bedrohlichen Monstrum“ hin zur Koexistenz ab. In Monet’s Gare Saint Lazare (1877) steckt noch Gespenstiges in den Rauchschwaden der bewegten schwarzen Dampfmaschinen samt ihrer Reisenden (Bild 2). Caillebotte (1885) „Le Pont d’Argenteuil“ lässt sich die impressionistische Stimmung nicht durch die eiserne Brücke trüben. Er nutzt einer Kamera nachempfunden den Blick unter der Brücke durch auf die Schiffe, bei denen das dampfgetriebene Schaufelrad, die romantische Sicht des Schiffsbauers Caillebotte auf die Seine bei Argenteuil nicht sonderlich stört (Bild 3). Der Fußgänger auf der Brücke nahe dem Geländer nutzt die Brücke zum Überqueren der Zeitalter und sammelt Impressionen. In weiser Vorahnung lässt sich die Dominanz der Technik über die Natur ablesen, einschließlich des manchmal faszinierenden, geometrischen Formen- und Farbenspiels der Brückenbauten. Das Fortschrittsnarrativ verändert sich langsam durch soziale Bewegungen, wie die starke Gewerkschaftsbewegung unter den Eisenbahnern (in der Ausstellung durch Poster repräsentiert) und der Kriegs- und Deportationsnutzung von Zügen. Heute hat sich das Narrativ von dem einstigen Symbol der Beschleunigung, hin zu dem möglichen ökologieverträglichen Mittel der Entschleunigung, Nachtzug fahren statt Flugreise, gewandelt. Kunstschaffende öffnen uns die Augen und sind oft Vorreiter für sich verändernde Narrative. Benjamin Péret (1936) hatte seine Vision des Sieges der Natur viele Jahre vor der Realisierung seiner Imagination auf dem Berliner Südgelände in Schöneberg hinter dem ICE-Bahnhof Südkreuz. Eine gelungene Ausstellung in den Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique. Schade, dass die Bilder nicht selbst weiterreisen können, sondern wir noch zu ihnen reisen müssen. Die Besucherinfo in schwarz-weiß zur Ausstellung gibt es hier (F).
Responsible Design
In der einseitigen Kulturseite der Financial Times wird am 26.10.21 auf eine Ausstellung im Design Museum in London hingewiesen. „Waste Age – What design can do“ heisst die Challenge. Es reicht von „Fast Fahion“ bis „technologische Obsolescence“. Warum diese kurzlebigen Produktzyklen? Nach unserem „waste age“ kommt dem Artikel gemäß das „precious waste“- age, also die Phase in dem aus Abfall Werte geschaffen oder zurückgewonnen werden. Das kennen wir unter Recycling und Upcycling bereits. Für Reisende in Zügen sind die Austellungen in Bahnhöfen zu „ZeroWasteArt“ sicher ein Begriff. Solches Imagineering oder Re-imagining brauchen wir mehr und mehr. Daran werden wir nicht vorbeikommen, schon allein aus Respekt vor den Chancen für zukünftige Generationen. Unsere Müllberge wegräumen sollten wir nicht der nächsten Generation aufbürden. Atommüll wird noch unzählige Generationen beschäftigen müssen. Das werden diese sich nicht ausgesucht haben. Denken in der Grammatik des Futur II ist Ökologie pur. Versuchen wir es mit „less is more“ und Reduktion auf das Wesentliche.