Ukraine 3.0

Aus Ukraine (1.0) vor dem Krieg (2014) ist Ukraine 2.0 im Zwischenkriegszustand geworden. Das wollten wir im Westen nicht wahrhaben und haben dem lächelnden Diktator Putin zugehört. Das war, im Rückblick, bereits Kriegvorbereitung für das Jahr 2022. Das wollten wir ebenfalls nicht sehen. Jetzt verzweifeln wir an den Optionen für ein Ukraine 3.0. Fünf Themen aus der soziologischen Literatur unterstützen die Reflektion und zeigen Gestaltungsansätze auf:
(1) Reiter und Stam (2002) erinnern uns daran “democracies are less likely to go to war than authoritarian regimes. Democracies are more likely to enter war when the likelihood of success is high.” Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine ist auch das von Downing untersuchte Verhältnis von militärischen Konflikten und der Entwicklung von Verfassungen im 17. Jahrhundert interessant, wird doch von Russland heute noch die Meinung vertreten, dass die ukrainische Verfassung keine Paragraphen über NATO und/oder EU-Beitritt enthalten dürfe.
(2) Thomas Janoski (1998, S.146) hat bereits den Zusammenhang von Mobilisierung für den Krieg und die Frage von Staatsbürgerschaften und sozialen Rechten analysiert. Er konstatiert den Anspruch auf allumfängliche Staatsbürgerrechte für „veterans and civilians who have risked life and limb for the country“. Im Ukrainekrieg können wir das ergänzen mit dem Einsatz von Leben und Knochen für die Idee von Freiheit, Selbstbestimmung Rechtstaatlichkeit und Demokratie. Das heißt, Zugang schaffen zu unseren Arbeits- und Sozialsystemen und zwar für die Familien, die mit aller Härte unsere Werte verteidigt haben.
(3) Theda Skocpol (1979) hat in eindrücklicher Weise die Rolle von geopolitischen Verschiebungen und innenpolitischen Konsequenzen verdeutlicht. Sowohl die französischen, russischen und chinesischen revolutionären Umbrüche können als Folge von (verlorenen) Kriegen interpretiert werden.
Goldstone (1991) vertritt komplementär die These, dass „intra-elite conflict and fiscal strains” als weitere hinreichende Bedingungen notwendig sind, damit Regimewechsel erfolgreich verlaufen können. Bezogen auf Russland im Ukrainekrieg sollte der „inter-elite conflict“ zwischen modernen wirtschaftlichen Eliten des Landes und der verkrusteten militärischen Corps als eventuell richtungsweisend betrachtet werden. Das Modernisierungs- und Demokratisierungspotential der Wirtschaftseliten wird durch die Sanktionen nachhaltig geschwächt, was die alten militärischen Eliten zusätzlich begünstigt. Die russischen Militärkader könnten bei gesichtswahrender Konfliktbeilegung ihre Macht gefestigt sehen. Das gilt es zu vermeiden. Ebenso, wie die klare Kante gegenüber regimestützenden Oligarchen. Einfach gesagt, schwierig im Detail.
(4) Charles Tilly (1985), der Autor von „War making and state making as organized crime” hat in 1995 die Analogie zur Hydraulik in der politischen Soziologie geprägt: Der Staat ist ein Becken von vielen Zu- und Abflüssen. Die Stabilität des Beckens besteht in der Fähigkeit, die unterschiedlichen Ströme auszubalancieren. Nicht antizipierte Ströme können die Balance nachhaltig stören, so dass das gesamte Becken kippt. Neben den externen Strömen stellen große soziale Bewegungen eine den externen Einflüssen vergleichbare interne Gefahr dar. Das würde bedeuten: Der eigentliche Krieg bestreitet Putin und seine militärischen Eliten gegen seine eigene Bevölkerung, im Angesicht der Gefahr einer Demokratisierung der russischen Gesellschaft.
(5) Richard Falk (2002) fordert uns heraus, das Verhältnis von Globalisierung und Menschenrechten zu hinterfragen. Eine naive Erwartung, dass Globalisierung nach und nach eine Verbreitung und Verbreiterung an Menschenrechten mit sich bringen werde, wurde bereits 1999 von ihm bezweifelt. Die zähen Entwicklungen im Umfeld von Kriegen mit den einhergehenden Menschenrechtsverletzungen haben uns das heute auch in Europa vor Augen geführt. Es fragt sich, warum eine Direktive oder Empfehlung der EU-Kommission zur Einhaltung von Menschenrechten in Lieferketten von Unternehmen so lange blockiert wurde. Der Krieg in Europa macht uns unsere Verantwortung klar, entschiedener für die Verwirklichung und Einhaltung der Menschenrechte einzutreten. Wirtschaftssanktionen bei Menschenrechtsverstößen treffen immer auch die Auftraggebenden (russisches Gas), aber das werden wir aus- und durchhalten müssen, ansonsten werden wir zu Kollaborateuren (mehr dazu). Schuldig am Massaker an Unschuldigen, die wegen ihrer Herkunft ermordet wurden und werden. Originalbild von Poussin in der Sammlung Château Chantilly. Mehr zu kollektive Gewalt auf schoemann.org.

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