Bei der Recherche zum Begriff der Kollaboration bin ich auf die grundlegende Arbeit von Poshek Fu (1993) gestoßen. Er spannt mit klarem Blick die moralischen und politischen Optionen in Zeiten von kriegerischer Besetzung eines Landes auf. Bewusst begibt er sich in die Grauzone der möglichen Verhaltensweisen in besetzten Regionen. Als eine literarisch und biografisch inspirierte Heuristik erläutert er in plastischer Form die Komplexität und Ambiguität des Verhaltens in extremen Situationen bei Präsenz von unmenschlichem Terror (S.XIV). Das dreiteilige Schema von möglichen Verhaltensweisen Passivität, Widerstand und Kollaboration lässt Raum für den „menschlichen Willen“ selbst unter extremen Bedingungen historischer Konstellationen, die überfrachtet sind mit Konfusion und moralischer Unsicherheit (S.XV). Sein komparativer literaturwissenschaftlicher Ansatz eröffnet interessante Zugänge zur Komplexität des Widerstands, von sich entwickelnden Kompromissen sowie der Ambiguität von intellektuellen Wahlmöglichkeiten, wie er es nennt. Sein literaturgeschichtlicher Ansatz sieht Literatur als „socially symbolic act, a mediated, symbolic response to a concrete historical situation“ (S. XVII). So kann sich Literaturgeschichte eine kritische Distanz zum Studienobjekt und -subjekt erhalten und kontextualisierte Literatur als empirisches Datenmaterial sekundär auswerten (Forschungsfeld: digital humanities). Auf diese Weise wird Literatur zu historischen Zeitperioden Grundlage für qualitative Sozialforschung, bestens geeignet für Hypothesengenerierung zu sozialen Prozessen oder Begriffsklärungen beziehungsweise Kategorisierungen. In diesem Beispiel erweitert sich der ansonsten schwer fassbare Begriff der Kollaboration um die logischen Handlungsalternativen der Passivität (innere/externe Emigration) und Widerstand (offene/verdeckte Gewaltbereitschaft). So können wir unsere zur Verfügung stehenden Optionen in Gedankenexperimenten zum „Krieg in Europa 2022“ (s.u. NYT vom 1.März 2022) schon gedanklich vorbereiten. Die Ukrainer*innen mußten rasch handeln, ohne viel Bedenkzeit oder waren sie seit dem Überfall 2014 bereits rational und emotional schon involviert inWiderstand, während wir im weiteren Westen die Gefahr noch ausblenden wollten.
Meine imaginäre Schuman Déclaration vom Mai 2020 liest sich aktueller denn je.
Fu, Poshek (1993). Passivity, Resistance, and Collaboration. Intellectual Choices in Occupied Shanghai, 1937-1945. Stanford. Stanford University Press.