Denken und Gedenken an die Ukraine bedeutet auch Forschungsfragen neu zu stellen. Es gibt kein Weiterso mehr. Eine erste Themenauswahl der notwendigen Gedankenexperimente. Beispiele soziologischer Forschung zum Krieg:
(1) Generationeneffekte welche historischen Vergleiche zum Ukrainekrieg herangezogen werden. Putin versucht Bezug zum 2. Weltkrieg herzustellen, während Westen die Territorialrückgewinnung von Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion betont.
(2) Soziale Netzwerke werden eventuell neu formiert durch Rückbezug auf familiäre Bindungen statt breiteren Netzwerken. (3) Scheidungsraten durch kriegsbedingte Trennungen oder Rückbezug auf ethnische Bezüge verändern sich.
(4) Die Motivation für kriegs- oder zivildienstlichen Einsatz lässt sich zurückführen auf Gender, Identitäten, soziale Netze und Wertegemeinschaften oder auch den eigenen Lebensverlauf.
(5) Russlands Bedeutungsverlust vom „Core to Periphery“ in der Weltwirtschaft und Technologiekompetenz ist empirisch zu belegen.
(6) Individuelle Prädispositionen für Einsatz im Umfeld von Krieg sowie Stressmanagement, Verarbeitungsstrategien von derartigen Erfahrungen erfordern aufwendige Längsschnittuntersuchungen. Diese Studien zum Irak- oder Afghanistankrieg wurden vernachlässigt.
(7) Eine im Regionalbezug offene Frage bleibt, inwiefern Krieg zum „Institution building“ beiträgt. Das betrifft die Entstehung/Untergang ganzer Staaten, Regionen oder Bevölkerungsgruppen.
(8) Das UN-Gebilde mit differenzierten Zuständigkeiten, Sicherheitsrat, Vollversammlung, Internationalem Gerichtshof und Handelsorganisation wird einem Stresstest unterzogen und Reformbedarf offensichtlich.
(9) Viel Hoffnung wird auf den Zusammenhang von Krieg und Revolution gesetzt. Das Vertreiben von Despoten kann zu einer nachhaltigen oder intermittierenden Demokratisierung führen.
(10) Kriegsrelevante Produktion kann industriepolitische Veränderungen von großer Tragweite herbeiführen, je nach Stabilität oder Veränderung von regionalen Produktionsclustern oder Verwendung von neuen Technologien.
(11) Wer führt Krieg, Staatsführer, jeweilige verbundene Eliten oder breite Bevölkerungsgruppen (Guerilla)?
(12) Opportunitätskosten der Militärausgaben und -investitionen müssen kalkuliert werden, sowie die „keynesianischen“ Multiplikatoreffekte von derartigen „Konjunkturprogrammen“ und Staatsverschuldungen zusätzlich zu den „foreign direct investments“ innerhalb und zwischen Wirtschafts- beziehungsweise Militärallianzen. (siehe unten Grafik aus Economist 2022 zum 2% Ziel NATO).
(13) Wechselwirkungen zwischen den vorgenannten Themen erhöhen die Komplexität und zeigen die notwendige Bescheidenheit der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse im Vergleich zum Ausmaß der Aufgabe.