Improvisation

Wir haben in Europa oft sehr hohe Ansprüche an unsere Imagination und sind gleichzeitig geprägt von vielen eindrucksvollen vorherigen Beispielen. Gleichzeitig verlassen wir uns auf gerne auf etablierte Regeln, die Sicherheit und Harmonie gewährleisten sollen. Das hat meist historische Gründe und ist in vielen Lebensbereichen auch sehr sinnvoll. Als Weiterentwicklung eben auch in der Ideengeschichte hat sich gerade eine neuerliche Diskussion über den Wert der „Improvisation“ als Kulturtechnik (Musikbeispiel) und wichtiger Teil des Kompetenzspektrums entfacht. Das ist leicht für jede/n auszuprobieren. Die zentral europäischen Länder tun sich schwer, den Wert der Improvisation außerhalb der Jazzmusik zu würdigen. So überrascht es wenig, dass eine philosophische Wertschätzung der Improvisation, die eine lange Tradition hat, denn auch von einer Person mit italienischem Namen als Erstautor angeregt wird (Alessandro Bertinetto und Georg W. Bertram). Philosophischer Ausgangspunkt ist Wittgenstein. Demnach sei die Flexibilität des rationalen Verhaltens bestimmt von der Maxime: Wir schaffen die Regeln im laufenden Prozess. Im künstlerischen Bereich ist die Improvisation fest etabliert als normative Praxis. Das Anliegen der beiden Autoren ist weitreichender. Improvisierte Praxis wird gesehen als konstitutiver Bestandlteil der menschlichen Praxis. Die Hegelsche Dialektik wird angewandt auf das jeweilige Verständnis von Normativität, Gewohnheit und Freiheit. so entstehen jeweils dialektische Paare von Konstrukten (S.204), die Improvisation als Gegenpol definieren, um neue synthetische Begriffe zu definieren, die Improvisation als impliziten Teil verstehen. Normativität als planvoll setzt sich nur scheinbar ab von planlos, da Improvisation auch in künstlerischen Bereichen gewissen Normen folgt. Gewohnheiten werden zufällig durchbrochen. Der Begriff der Freiheit knüpft an das Verständnis von Freiheit als Freiheit von Zwängen, gegenüber positiver Freiheit, d.h. etwas tun zu können. Frei von äußeren Zwängen sind nur ganz selten Akte der Ausübung von selbstbestimmtem Handeln. Vorbereitung ist daher eine Vorbedingung für Improvisation (S. 205). Der Improvisation inhärent ist das prozedurale Lernen „learning by doing“ und weniger die theoriegeleitete Praxis. Persönlich habe ich allerdings einen sehr theoriegeleiteten Zugang zur Improvisation, ausgehend von bspw. den Kirchentonarten und Intervallen, hin zur Jazzmusik.
Spannend ist die Rolle von Interaktionen zwischen Personen bei Improvisationen, die ein ständiges Ausloten von Grenzen und Plänen darstellen können (S. 209). Für JuristInnen ist die Diskussion zum „Subsumieren“ von Fällen unter allgemeine Regeln ein interessanter Anwendungsfall der humanen Praxis Improvisation. Neue auftretende Fälle geben eventuell Anlass für ein gewisses regelkonformes Improvisieren, das dann diskursiv im Weg durch die Instanzen Normativität erlangt. Den Menschen, eventuell sogar das Menschsein, im Gegensatz zum Roboter oder der künstlichen Intelligenz zeichnet gerade der kreative Umgang mit Regeln aus. Anfang sein für Menschlichkeit kann jeder Faux-pas.
(Musik dazu Relaxin von Willie „The Lion“ Smith)